DAS ZENTRUM FÜR JÜDISCHE STUDIEN IN ISRAEL
Betrachtungen zum Wochenabschnitt
"Be'Ahawa ube'Emuna"
PARSCHAT WAJISCHLACH
Nr. 227
18. Kislev 5760
Diese Woche in
der Tora (Gen. 32,4 - 36,43):
Jakows Heimkehr
nach Kana'an, Kampf mit dem Engel,
Geschenke an Eßaw,
Jakow trifft Eßaw, Landkauf bei Sch'chem,
Entführung
Dinas durch Herrscher von Sch'chem,
Scheinvertrag, Tötung
der Verantwortlichen durch Levi und
Schimon, Jakow>Israel,
Beschränkung des Awraham und
Jizchak gegebenen
Versprechens des Landes Israel auf Jakow
und seine Nachkommen,
Tod Rachels bei der Geburt
Benjamins.
Frage
und Antwort
Auf der Suche nach sich selbst Rav Schlomo Aviner
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Frage: Wie finde ich zu mir selbst?
Antwort: Das ist schon mal ausgezeichnet, dass du dir ernsthafte
und gewichtige Fragen wie die über das eigene Ich stellst. "Ich"
("ani") ist das zweite Wort, das man zu Beginn eines jeden
Tages beim Aufstehen ausspricht. Vorher noch sagt man
"modeh", "Danke", um G~tt für alles Gute und alle Wohltaten
zu
danken, und dann sagt man "ich", um sich mit sich selbst [nach
dem Schlafe] wiederzuvereinigen. Auch erwähnt man gleich
anschließend "..der du mir meine Seele zurückgegeben
hast",
"mir meine Seele" - in mir habe ich meine eigene, einzig-
individuelle Seele.
Wie entdeckt der Mensch nun diese seine Seele? Das ist eine
höchst verantwortungsvolle Frage, die/der sich wie du jeder
Mensch stellen muss, etwa gegen Ende des zweiten
Lebensjahrzehnts. Ein Kind nimmt viele und widersprüchliche
Einflüsse auf, von den Eltern, von der Schule, von der
Jugendgruppe, von der "Straße", ein ganzes Sammelsurium von
undefinierten Einflüssen; ebenso von den Massenmedien, Kino
usw. Das Kind ist sich nicht immer der Widersprüchlichkeit
dieser Botschaften bewusst, die es in sich aufnimmt, auf jeden
Fall fühlt es sich nicht besonders dadurch gestört. Bis es
schließlich das Alter der Entscheidung erreicht, in dem sich
der
Mensch aus all dem Erhaltenen das heraussuchen muss, womit
er sich identifizieren kann, und wovon er sich distanzieren will.
Dabei handelt es sich um eine noch wichtigere und
schicksalshaftere Aufgabe als nur die Entdeckung des eigenen
"Ichs", vielmehr geht es um die schwere Entscheidung und die
Festlegung für die Zukunft, wer ich sein will. Aus allen
Einzelteilen meines "Ichs", die auch aus den Umwelteinflüssen
resultieren, muss ich mir die Rosinen herauspicken und den Rest
zurücklassen. Nehmen wir z.B. einmal an, deine Freundin
beschließt, nicht mehr religiös zu sein, und du bist darüber
erschüttert. Sie kam schließlich nicht unreligiös zur
Welt, sie
hatte doch von Anfang an eine göttliche Seele, das "Ebenbild
G~ttes" - aber sie hat sich so entschieden.
Die Entwicklung des einzelnen Menschen hängt in starkem
Maße von ihm selbst ab. Das ist das Gute an der Sache. Den
wichtigsten Teil des Menschen, das eigene "Ich", hat ihm G~tt
nicht fest einprogrammiert, sondern seiner freien Entscheidung
unterstellt. Die Entscheidung über den Kauf eines neuen,
schönen Kleides möchtest du sicher nicht Anderen überlassen,
sondern selber treffen, und bist erst recht froh darüber, dass
du
über dein eigenes "Ich" selber bestimmen kannst.
Die Auswahl triffst du nicht nur aus der Gesamtsumme der
direkten oder indirekten erzieherischen Einflüsse, denen du
während deiner Kindheit und Jugendzeit bis heute ausgesetzt
warst. Dazu kommen auch Eigenschaften, die du schon von
Geburt an hattest, zum Guten wie zum Bösen. Du trägst in
dir
sowohl eine göttliche wie auch eine tierische Seele, das
"Ebenbild G~ttes" und "das Tier im Menschen", den Trieb zum
Guten wie den Trieb zum Bösen, eine reine und eine unreine
Seele. Der Mensch entscheidet darüber, wie sein "Ich"
aussehen wird. Beide Seelen liegen in ständigem Streit
miteinander, jede von ihnen möchte über deine Persönlichkeit
herrschen, und du musst dich in diese schwere Schlacht stürzen,
um den Krieg zu gewinnen. Dieser Kampf währt das ganze
Leben. Das ganze Leben lang will die tierische Seele dein "Ich"
verleiten und verschlingen.
Wenn du z.B. einmal aus Versehen deine Freundin kränkst,
fühlst du hinterher sicher große Gewissensbisse. Auf der
einen
Seite möchte die tierische Seele beleidigen, kränken, vernichten
und töten, doch hast du andererseits die reine Bestrebung, sanft
und edelmütig zu sein, und wenn dir einmal unvorsichtigerweise
eine verletzende Bemerkung herausgerutscht ist, fühlst du dich
gleich schrecklich, möchtest die Sache ins Reine bringen und
Vorsorge treffen, dass es nicht noch einmal passiert. Für
das
"Tier im Menschen" empfindest du gar keine Sympathie.
In früheren Zeitaltern war dieser Kampf sehr schwer. Die
göttliche und die tierische Seele sprechen nämlich mit einer
Stimme, und jede ruft: "Ich!" Wenn dein "Ich" spricht, denkt oder
fühlt, weißt du nicht immer genau, welche der beiden Seelen
dahintersteckt. Denn auch die unreine Seele zeigt sich nach
außen hin in schönem Gewand und tritt im Namen der Freiheit,
der Natürlichkeit, der Lebensfreude, der Unabhängigkeit,
der
Selbstverwirklichung, der Lebenskraft, des freien Willens usw.
auf. Darum verfiel die Menschheit während tausender von
Jahren dem Götzendienst, in dem Glauben, dort die
Erleuchtung zu finden.
Dieser Zustand währte bis zur Übergabe der Tora am Sinai.
Seitdem ermöglicht sie uns die klare Feststellung, welche der
beiden Seelen in jedem Einzelfall das Wort führt. Ein
nichtreligiöses Verhalten, das sich in unsittlicher Bekleidung
äußert, weist eindeutig auf die tierische Seele hin, denn
Tiere
laufen unbekleidet herum. Dein Bemühen, die Freundin nicht zu
verletzen, ist ein Zeichen der göttlichen Seele, denn der Herr
der
Welt liebt die Geschöpfe. Obwohl wir jetzt über eindeutige
Definitionen verfügen, befreit uns das natürlich nicht von
der
eigenen Anstrengung, aber wenigstens wissen wir jetzt deutlich
zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.
Von alledem lernen wir, dass einem das eigene "Ich" nicht in den
Schoß fällt. Man muss es sich langsam aber sicher erobern.
Nicht umsonst benannte Rabbiner A.J.Kuk die Suche nach dem
Selbst in seinem Buch "Orot HaKodesch" (3.Teil) mit der
allgemeinen Überschrift: "Selbständigkeit und der innere
Kampf
[des Menschen]". Ist das nicht ein wunderbares Gefühl, zu
deinem eigenen Selbst aus eigener Kraft zu gelangen und es
nicht einfach als milde Gabe zu erhalten? Das ist die größte
Gabe G~ttes, dass er dir ermöglicht, dir dein eigenes "Ich"
zu
verdienen.
Doch nicht nur dieser Sieg ist wunderbar, sondern auch der
Kampf, der zu ihm führt, denn man erhält dabei Unterstützung
durch die göttliche Seele. Der Talmud erzählt ein Gleichnis
von
einer Prinzessin, die einen Städter heiratet, der ihr alle Wünsche
erfüllt; doch sie ist traurig und sehnt sich nach dem
Königspalast. Deine göttliche Seele gleicht dieser Prinzessin,
ein himmlischer Anteil, sie sehnt sich nach der Anhänglichkeit
an G~tt, und auch deine Seele wird sich nicht mit weniger zu
ihrem Glück zufriedengeben.
Am
Schabbes-Tisch
Krieg und Moral Rav Jakov Ari'el
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"'Da fürchtete sich Jakov sehr, und es ward
ihm bange' - er
fürchtete sich, er könnte getötet
werden, und es war ihm bang,
er könnte andere töten" (Gen. 32,8,
Raschikommentar nach
dem Midrasch).
Warum machte sich Jakov darum Gewissensbisse?
Kannte er
nicht das Gesetz: "Wenn einer kommt, dich zu
töten, komme
ihm zuvor und töte ihn"? Mit diesen Fragen
beschäftigten sich
die späteren Kommentatoren. Alle gingen
von der
Grundannahme aus, dass Jakov durchaus das
Recht auf
Selbstverteidigung gegen seine Verfolger hatte.
Jakovs Zweifel
erklärten sie damit, dass er nicht
jemanden treffen wollte, der es
gar nicht auf ihn abgesehen hatte, oder dass
er im Eifer des
Gefechtes unangemessen drastische Maßnahmen
ergreifen
würde. Diese Befürchtungen hinderten
ihn jedoch nicht daran,
die nötigen Vorbereitungen für den
Verteidigungsfall zu treffen
und wenn nötig zum Gegenangriff überzugehen.
Darin liegt
nicht nur die beste Verteidigung, sondern auch
die wahre
Gerechtigkeit, dem Bösewicht endgültig
das Handwerk zu
legen. Doch dies darf sich nur in genau definiertem
Umfang
abspielen. Man darf nur das unbedingt Notwendige
tun, ohne
Schadenfreude, sondern mit ehrlich gefühltem
Schmerz über
die rauhe Wirklichkeit, die diese Schritte erforderlich
machte.
Jakov sah seine Beziehung zu Eßaw zunächst
auf rein
persönlicher Ebene. Er wollte dessen Feindseligkeit
auf keinen
Fall verallgemeinern. Darum fürchtete er
sich und es war ihm
bang (s.o.). Sowohl seine eigene Furcht als auch
der Schmerz
über mögliche Verletzung Anderer entstammten
dergleichen
Einstellung Jakovs, der gerade aus dem Ausland
nach dem
Lande Israel zurückgekehrt war und noch
immer die gewohnten
Maßstäbe anlegte, als handelte es
sich hier nur um eine
persönliche Fehde zwischen ihm und seinem
Bruder. Der
Kampf mit dem "Mann" am Übergang über
den Fluss Jabok
(Gen. 32,25) im Dunkel der Nacht, vor
der Begegnung mit
Eßaw, lehrt uns, dass dieser Konflikt
allgemeingültiger und nicht
privater Natur war. - Die Gemeinsamkeiten einer
bestimmten
Bevölkerung bestehen im allgemeinen aus
einer gemeinsamen
Grundidee, gemeinsamen Wesenszügen, gemeinsamen
Plänen
für die Zukunft, einem charakteristischen
Lebensstil und auch
gemeinsamen Bedürfnissen. All diese zusammengenommen
laufen in einer bestimmten, abstrakten Idee zusammen.
Das
nennt die Tora das "Genius" eines Volkes, der
für dieses Volk
zuständige "Oberengel" ("Ssar").
So wie jedes Pflänzchen
seinen eigenen Engel hat, der ihm sagt "Wachse!"
(Midrasch
Bereschit rabba 10,6), d.h., das natürliche
Potential dieser
Pflanze und die biologischen Gesetze, die für
ihr Gedeihen
zuständig sind, so unterliegt jeder Engel
seinen eigenen
Gesetzmäßigkeiten. Die Begegnung Jakovs
mit dem Genius
von Eßaw sollte Jakov beruhigen, damit
er sich nicht fürchte und
es ihm nicht bange werde. Sie sollte ihn von
seiner
individualistischen Weltanschauung befreien und
ihm den
großen Überblick ermöglichen.
Der Übergang über den Jabok
kennzeichnet den Übergang vom Exil zum Lande
Israel, von der
individualistischen Weltanschauung, die das Leben
in der
Diaspora beherrscht, hin zu einer Weltanschauung
der
Souveränität, der Nationalstaatlichkeit
und der allgemeinen
Gesellschaftsstrukturen, die das neue Leben im
Lande Israel
charakterisieren.